Kulturelle Emergenz

Über das Werkzeug der "Kulturellen Emergenz" nach Jon Young und Looby Macnamara, bei dem es darum geht, festgefahrene Verhaltensmuster bewusst zu machen und zu ändern.


Da wir in unsere Familienkultur hineingeboren werden, wachsen wir darin auf wie der Fisch im Wasser. Wir bemerken die Strömungen gar nicht, die uns unbewusst lenken, solange wir nicht willentlich unsere Aufmerksamkeit darauf richten. Unsere Familienkultur ist eingebettet in ein bestimmtes gesellschaftliches Milieu und das wiederum unterliegt den Regeln und Normen eines Sprachraumes, und so weiter. Natürlich ist es nicht eine Kultur, der wir unterliegen, sondern viele verschiedene, die miteinander in komplexer Wechselwirkung stehen. Eine Kultur ist also ein Holon,ein Ganzes, das Teil eines anderen Ganzen ist.

Während wir aufwachsen können wir uns erstmal dem Einfluss dieser kulturellen Gewohnheiten nicht entziehen. Werden diese Gewohnheiten oft genug wiederholt, werden sie zu festgefahrenen Mustern kultureller Konditionierung. Als Kinder saugen wir diese Verhaltensmuster auf wie Schwämme und replizieren sie später als Erwachsene, da wir in bestimmten Situationen einfach nichts Anderes gelernt haben. Wir kennen sicher alle Momente, in denen wir erschrocken feststellen, dass wir gerade einen Satz ausgesprochen oder eine Handlung ausgeführt haben, die uns bei Anderen (zum Beispiel unseren Eltern) negativ aufgefallen ist. Da sehen wir plötzlich, dass wir dieses Verhalten ganz unbewusst in manchen Situationen selbst reproduzieren. Es zeigt uns die Macht des Lernens am Modell und die Macht der Gewohnheit.

Kulturelle Emergenz

Eine der Grundideen der kulturellen Emergenz nach Jon Young und Looby Macnamara ist es, Kulturen aller Art als dynamische Konstrukte wahrzunehmen, denen wir eben nicht machtlos ausgeliefert sind. Indem wir uns diese Prozesse durch Beobachtung bewusster machen, sind wir in der Lage den Ist-Zustand zu benennen und so zu dessen Veränderung und Entwicklung aktiv beizutragen. Wir haben die Möglichkeit in den Kreislauf unserer Denk- und Verhaltensmuster einzugreifen, indem wir Eigenverantwortung übernehmen und anfangen unser Verhalten bewusst zu ändern.

„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Dieses von Aristoteles eingekürzte Zitat beschreibt Emergenz ganz gut. Es meint, dass durch die Beziehungen, die zwischen verschiedenen Elementen innerhalb eines Systems entstehen, etwas ganz Neues entstehen kann. Nehmen wir zum Beispiel zwei Menschen als Elemente. Durch die Zusammenkunft dieser Menschen entstehen neue Eigenschaften, die die einzelnen Menschen alleine nicht hätten erzeugen können. Dabei ist nicht absehbar, welche Eigenschaften durch den Beziehungsprozess zu Tage treten und die Emergenzen bestehen immer aus einer Mischung aus Vorhersehbarem und Überraschendem.

Die 15 Prinzipien der kulturellen Emergenz

  1. Die richtige Zeit finden
  2. Nutze Emergenz, um Emergenz zu fördern
  3. Folge der Spur des Lebens
  4. Kulturen als Holons sehen
  5. Richte die Aufmerksamkeit auf deine persönliche Kultur
  6. Entdecke die Fülle
  7. Nutze die Intelligenz von empathischer Kooperation
  8. Viele Köpfe statt nur Einem
  9. Alles zu Einem werden lassen
  10. Vertraue dem Prozess
  11. Erlaube dir das Unmögliche möglich zu machen
  12. Zuerst planen, dann fließen
  13. Den Schritt ins Unbekannte wagen
  14. Sehe das Potential
  15. Achtsamkeit gegenüber Veränderungen, Möglichkeiten und guten Gelegenheiten

Kernroutinen der kulturellen Emergenz aufgeteilt in drei Themenschwerpunkte

  1. Fordern & Wecken
    • In Systemen denken

    • Denkweisen herausfordern

    • Muster erschüttern

    • Achtsamer Sprachgebrauch

    • Kulturverständnis entwickeln

    • Eigenverantwortung und kollektive Verantwortung
       

  2. Berühren & Beleben
    • Eine Vision haben

    • Fragen stellen

    • Ideen haben

    • Benennen und verändern

    • Effektivität

    • Feedforward anbieten und ersuchen

    • Manifestation durch Design und Handlung
       

  3. Hegen & Pflegen
    • Kollaboration und gemeinsames Schaffen

    • Zuhören

    • Wertschätzen und Feiern

    • Übungen, um Verbindungen zu knüpfen

    • Beziehungen pflegen

    • Emotionen Raum geben

Bei den Prinzipien der kulturellen Emergenz handelt es sich um wichtige Grundfähigkeiten, die uns helfen können, Perspektive zu wechseln. Kernroutinen sind im Grunde Lerngewohnheiten. Wenn wir uns regelmäßig mit diesen Routinen beschäftigen, so können wir unsere Entwicklung hin zu einer gesünderen Lebensweise und Kultur bewusst beschleunigen. Kernroutinen bieten Anregungen um bestimmte Verhaltensweisen einzuüben, sie in unser Leben zu integrieren und so zu einem persönlichen Lebens- wie auch Kulturwandel hin zu mehr Fürsorge, Achtsamkeit und Verbindung beizutragen.

Es sei noch vorangestellt, dass es sich bei der hier vorgestellten kulturellen Emergenz um Version 1.5 handelt. Das Projekt ist noch sehr jung und darf weiterwachsen. Hierbei dürfen gerne viele Köpfe teilhaben. Meiner Meinung nach sind im Moment einige der Konzepte auf ihr Kondensat reduziert, noch nicht sofort verständlich oder bleiben in ihrer kurzen Beschreibung zu vage und global. Ich habe die Prinzipien und Kernroutinen, die im Text vorkommen fett markiert. Für mich ist erst durch das direkte Erleben und Einüben dieser neuen Verhaltensweisen ein tieferes Verständnis entstanden.

Mit den Prinzipien und den Kernroutinen arbeiten

Die permakulturelle Herangehensweise, wie auch die Praxis der Naturverbindung, lehren uns mit dem Beobachten anzufangen. In welcher Umgebung befinde ich mich gerade? Was höre, sehe, rieche und schmecke ich? Und was nicht? Wie verhalten sich die Menschen und Lebewesen um mich herum? Wie interagiere ich mit ihnen? Wenn wir hierbei unseren Blick auf die Kulturen, in denen wir leben, richten, stecken wir bereits in der Kernroutine der Entwicklung von Kulturverständnis. Mit Hilfe von Permakultur-Werkzeugen können wir des Weiteren Designs entwerfen, um eine gesündere Kultur bewusst zu gestalten und zu manifestieren.

Bei den Kernroutinen geht es mit dem Themenschwerpunkt Fordern & Wecken los. Diese Lerngewohnheiten möchten uns dabei unterstützen dem Ist-Zustand neugierig gegenüberzutreten, mit offenen Augen unsere Umgebung zu beobachten und unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten. Die Kernroutinen zum Thema Berühren & Beleben sollen dabei helfen in Schwung zu bleiben und neue Impulse zu setzen. Sie bieten die Möglichkeit mehr Bewegung und Lebendigkeit in unser Denken und Handeln zu integrieren. Durch neue Impulse, die wir in den Systemen setzen, sei es nun Familie, Freundeskreis oder Kollegen in der Arbeit, versetzen wir gleichzeitig unsere Umwelt in Schwingung und die Veränderung kann so ihre Kreise ziehen. Die Kernroutinen unter Hegen & Pflegen schaffen die Basis, um gesunde soziale Interaktionen zu ermöglichen. Sie tragen dazu bei unsere Energiespeicher wieder zu füllen, persönliche Ressourcen zu erkennen und zu nutzen, sowie authentisch im Miteinander zu sein.

In diesem Artikel greife ich lediglich drei Punkte heraus, um diese beispielhaft näher zu beleuchten. Wie Jon Young im Coyote Guide, einem Mentoren Handbuch zur Naturverbindung, schreibt:

„Die Routinen wirken auf magische Weise, wenn man ihnen die Freiheit lässt, zu kommen und zu gehen, wie sie es wollen – wie Ebbe und Flut oder die Jahreszeiten. Manche Routinen werden sofort anspringen und darum betteln, angewendet zu werden, während andere zunächst eher in den Hintergrund treten.“

Vertraue dem Prozess

Dieses Prinzip hat im Moment sehr große Bedeutung und hohe Priorität für mich. Es wäre leicht mich vor dem Unbekannten zu fürchten und so aus Angst meinen Bewegungsradius einzuschränken. Das Verharren in der Komfortzone ist für mich auch ein kulturelles Muster, das es zu erschüttern gilt! Seit ein paar Jahren bemühe ich mich deshalb, dem durch das Mantra „Vertraue dem Prozess“ entgegenzuwirken. Meine Erfahrungen seitdem bestätigen seine Kraft und so fällt es mir zunehmend leichter mich fallen zu lassen und der Spur meines Lebens zu folgen, oder anders ausgedrückt, mich auf dem Fluss des Lebens treiben zu lassen und mitzuschwimmen statt gegenzusteuern. Um dem Prozess zu vertrauen, halte ich mich immer wieder an, die Perspektive zu wechseln. Zoome ich aus der Situation hinaus, wird mir klar, dass ich mit meinem kleinen Hirn nicht in der Lage bin die Komplexität zu überblicken. Mir bringt das Erleichterung und ich kann mich wieder entspannen. Ich muss auch nicht alles verstehen, vor allem nicht mit meinem rationalen Verstand.

Indem ich dem Prozess vertraue, wird es immer leichter aus der Komfortzone rauszugehen und mich mutig in die Wachstumszone zu begeben. Für mich bedeutet genau das Freiheit: den Mut zu haben, beständig meinen Handlungsspielraum zu erweitern und dabei zu akzeptieren, dass ich letztendlich nicht verstehe, von was meine Interessen und Begeisterung geleitet werden. Je mehr ich darauf achte und nicht krampfhaft versuche an einer Lieblingsidee festzuhalten, umso mehr bin ich erstaunt, was mir das Leben dabei alles schenkt.

Zuhören und Fragen stellen

Diese zwei Kernroutinen sind für mich sehr eng miteinander verknüpft. Mich im aktiven Zuhören zu üben, ist nach wie vor eine Aufgabe, der ich mich bewusst widme, sonst kann es passieren, dass ich in die Gewohnheit des nur-halb-anwesend-Seins rutsche. Es erfordert Konzentration und meine ganze Aufmerksamkeit. Bei unserer Kommunikation macht das Gesprochene nur circa sieben Prozent aus. 38 Prozent sind paraverbal (Tempo, Lautstärke, Betonung) und der Rest ist nonverbal (Körperhaltung, Mimik, Gestik). Zuhören steht für mich deshalb für ganz-anwesend-Sein: Wie kann ich mit all meinen Sinnen „Hören“, so dass ich im Hier und Jetzt bin? Ich kann nicht nur meinen Mitmenschen, sondern auch dem Wind, dem Regen, dem Schnurren der Katze zuhören.

Jemandem oder etwas ganz mein Ohr zu schenken empfinde ich nicht nur als Wertschätzung des Anderen, sondern ebenfalls als ein großes Geschenk an mich selbst. So kann ich mit meinem Gegenüber in Resonanz gehen und im Zwischenraum zwischen Dir und Mir alles zu Einem werden lassen. Wenn ich aufmerksam zuhöre, kann ich zumindest einen Teil der Energie, die im Unausgesprochenen mitschwingt, wahrnehmen. Stimmen die unterschiedlichen Komponenten von Gesagtem, Mimik, Gestik, Tonfall überein? Ist es eine Nachricht oder mehrere? Was löst die Kommunikation in Resonanz bei mir aus?

Indem ich Fragen stelle, versuche ich mir ein klares Bild mit allerlei Details zu machen von dem, was mir mein Gegenüber erzählt. Nur so kann ich anfangen mir vorzustellen, welche Gefühle und Gedanken gerade in diesem Moment in meinem Gegenüber lebendig sind. So helfe ich uns beiden, uns darin zu üben, Verbindungen zwischen uns zu knüpfen. Ich kann jedoch nur gute Fragen stellen, wenn ich zuerst genau zugehört habe.

Mitmachen, Ausprobieren und Erleben

Das Projekt der kulturellen Emergenz steht unter dem Prinzip der Emergenz selbst (nutze Emergenz, um Emergenz zu fördern). Es soll kein statisches Regelwerk darstellen, sondern als Anfangspunkt von Vorschlägen gesehen werden, die weiterentwickelt werden dürfen. Das Projekt soll sich im Fluss befinden, wandelbar bleiben, so dass alle ihren eigenen Zugang dazu finden und beitragen können, den Wandel hin zu einer gesünderen Kultur des gemeinschaftlichen Miteinanders zu gestalten.

Im Coyote Guide schreibt Jon Young:

„Unser ultimatives Ziel beim Mentoring ist es, die natürlichen Gaben jeder Person zum Vorschein zu bringen und ihr zu helfen, ihre Beziehung zu den verschiedenen Gemeinschaften aufzuspüren, den menschlichen wie den natürlichen. ... Es geht auch um die Verbindung mit der eigenen menschlichen Natur – die Entdeckung des wahren Selbst.“

Dieser Aufgabe möchte ich mich intensiv widmen. Es geht mir darum, mich selbst und Andere darin zu unterstützen eine tiefere Verbindung mit sich selbst, unseren Mitmenschen und anderen Lebewesen aufzubauen.


Bereits erschienen im Permakultur Magazin, Ausgabe 2018 für Vereinsmitglieder. Hier kannst du Mitglied werden und dem Permakultur Institut e.V. beitreten.

Seit Frühjahr 2018 lädt die Autorin ein, sich der offenen Webinar Gruppe zum Austausch über kulturelle Emergenz und zum gemeinsamen Einüben der Kernroutinen anzuschließen. Die Gruppe soll Übenden einen Raum für einen Erfahrungsaustausch geben. Wer daran Interesse hat kann sich jetzt bei Marie-Louise Mederer melden: ml@nicepages.de

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