Die Wüstengärtnerin

In der Uckermark entsteht ein Waldgarten-Hof.


Permakultur-Hof Stein-Häger – Johanna Häger
Permakultur-Hof Stein-Häger – Gemüseacker
Permakultur-Hof Stein-Häger – Der Waldgarten
Permakultur-Hof Stein-Häger – Bäume pflanzen

von Maria König

»Und wieder sitze ich im Bus. Es ist morgens um sieben Uhr dreißig, Linie 32. Es ist regnerisch und kalt, bald wird es wieder schneien. Die Nässe durchdringt Schuhe und Hosen. Wie gelähmt sitze ich da und sehe die gefassten, ­ruhigen Gesichter. Eine junge Frau unterdrückt ein Gähnen, verzieht ihre Mundwinkel. ›Nord­straße‹, brummt der Chauffeur. Wieder überfällt mich dieses Gefühl der Fremdheit. Ungläubig starre ich durch das Fenster. ›Wozu das Ganze?‹ ›Warum mache ich das noch mit?‹«
(Auftakt von Hans Widmers »bolo bolo«)

Johanna Häger ist 15 Jahre und lebt in Berlin, als sie »bolo bolo«, eine anarchistische Gesellschaftsutopie aus dem Jahr 1983, entdeckt. Das Büchlein, das sie heute als »recht naiv, aber ganz süß« bezeichnet, weckt in ihr den Traum von einer Gemeinschaft. »Ich dachte damals: Wie schön, dann muss ich nicht mehr, wie in der autonomen Szene üblich, gegen alles sein, sondern gründe eine Landkommune – die Leute können sich dann überlegen, ob sie lieber weiter beim Kapitalismus oder bei mir mitmachen«, erinnert sich die heute 41-Jährige. Um die Fähigkeiten zu erwerben, diese Landkommune irgendwann aufbauen zu können, schloss sie eine Zimmererlehre ab, und weil es damals noch keinen Studiengang für ökologisches Bauen gab, studierte sie anschließend Landschaftsarchitektur. Ein lebensprägender Schritt war auch die Ausbildung zur Permakulturdesignerin. Während ihrer Zimmererausbildung lernte sie ihren Mann Christoph kennen. Mit ihm und ihren beiden Kindern Frede­rik und Charlotte sowie einigen weiteren Menschen lebt Johanna auf einem Hof in Gerswalde, einem Dorf in der Uckermark.

Unter Freunden

Gemeinsam mit Matthias Fellner und ­Sarah Franz aus dem Oya-Redaktions­team bin ich auf dem Weg zu Johannas und Christophs Hof. Für Sarah ist das nicht nur ein redaktioneller Termin. Seit etwa einem halben Jahr wohnt sie selbst in Gerswalde. Johanna und Sarah sind inzwischen Freundinnen geworden und schmieden eifrig Pläne für die Zukunft. So werden wir herzlich und vertraut auf dem Hof empfangen. Als wir die urige, große Wohnküche betreten, wird es kurz laut und trubelig. Die Kinder begrüßen Sarah und uns, eine Freundin schaut vorbei und fragt, ob Johanna und Christoph später mit ihr zu Abend essen wollen. Nein danke, ist die Antwort, es ist noch genügend eigenes leckeres Essen da, aber vielleicht sieht man sich später am Feuer? Es wird ruhiger, als wir es uns an dem Holztisch mit Johanna und Christoph gemütlich machen. Wir möchten erfahren, wie die beiden hier gemeinsam mit vielen anderen seit elf Jahren ein ehemals kahles Gelände in ein »Biotop mit Mensch« verwandeln.
Johanna erzählt: »Von Anfang an ­haben wir darauf geachtet, Räume für Gäste auszubauen, und selbst lange in sehr beengten Verhältnissen gelebt. Zentral war für uns die Frage, welche Zimmer gebraucht werden, damit sich Gäste hier wohlfühlen. Während Christoph als Zimmermann auf Wanderschaft und ich auf verschiedenen Höfen unterwegs war, haben wir gemerkt, wie es sich anfühlen muss, damit wir Lust haben, an einem Ort zu bleiben und uns dort zu entfalten.« Acht Jahre lang haben sie vor allem Infrastruktur für Menschen, die zu Besuch kommen, ausgebaut; erst in den letzten beiden Jahren machten sie ihre eigenen Räume fertig. »Hier wurde hart gearbeitet«, sagt Johanna. »Aber wir haben immer genügend Bier im Haus gehabt und ganz viele Lagerfeuer angezündet, weil wir es so schön finden, wenn viele Menschen hierher kommen und sich zu Hause fühlen.« Christoph ergänzt: »Das ist eine Qualität auf unserem Hof: Wir stellen keinen Masterplan für die nächsten zehn Jahre auf, sondern orientieren uns an den Bedürfnissen, die entstehen: Will jemand hier wohnen, wird ein Zimmer hergerichtet; brauchen wir eine Sommerküche, wird das Holzlager zur Veranda umgebaut.«
Gerade ist Thema, dass es auf dem Hof keinen Gemeinschaftsraum für den Winter gibt. »Unsere private Familienküche ist ein solcher Aufenthaltsraum, das gesamte Hofleben im Winter spielt sich hier ab«, erklärt Johanna. »Es wäre großartig, wenn auch in der Scheune ein beheizbarer Ort entstehen würde.«

Die Wüste begrünen

Johanna bezeichnet sich selbst als Wüstengärtnerin. »Mein erster Permakulturlehrer in Spanien sagte: ›Dort, wo es schon schön ist, brauchen wir keine Permakultur, aber dort, wo die Landschaft kaputt ist, ist sie notwendig, um das Land wieder zu heilen.‹« Auch Johannas Hof war ein Stück Wüste. »Vor elf Jahren war ringsherum Roggenacker, das Gelände war bis auf fünf Bäume leer«, erinnert sie sich. »Es gab keinen Vogelgesang, alles war gespenstisch still. Ich musste buchstäblich auf Sand bauen.« Die Überzeugung, dass Wüste aufzuforsten eine Menschheitsaufgabe ist, vermittelte Johanna ein Reisebericht. Sie erzählt:
»Als ich in Spanien gerade meinen Permakulturkurs absolvierte, fuhr eine Freundin mit dem Fahrrad von Berlin nach Auroville, die 1968 gegründete Gemeinschafts-Stadt in Indien. In ihrem langsamen Reisetempo konnte sie beobachten, dass überall dort, wo Menschen siedeln, Wälder abgeholzt wurden und Wüsten entstehen. Schließlich fuhr sie in Indien durch die größte Wüste ihrer Tour – und mittendrin gab es einen Wald, den Menschen angepflanzt hatten und in dem sie wohnten. Der Wald war Auroville.«
Wo immer es ihr möglich ist, legt ­Johanna Waldgartenstrukturen an. »Wenn wir mit Bäumen und Sträuchern gärtnern, betreiben wir Klimaschutz, weil sie den Wasserhaushalt fördern, CO2 speichern, Humus aufbauen und für Schattenwurf und Windschutz sorgen. Und Bäume sind so schön! Wir können Holz und Früchte ernten, sie geben Insekten, Vögeln und anderen Tieren Lebensraum. An heißen Tagen finde ich es immer wieder erstaunlich, was ein Baumschatten ausmacht.« Bäume interessieren sie als Gärtnerin mehr als einjähriges Gemüse. »Das sind für mich die zickigen ­Diven unter den Pflanzen«, meint Johanna zu letzteren.

Essbare Landschaften

Nachdem wir lange in der Küche gesessen haben, wollen wir nun die Gärten, die aus Johannas Ideen entstanden sind, mit eigenen Augen sehen. Direkt hinter der Küche liegt ihr eigenes kleines Reich, der »Girls Garden«, wie sie ihn schmunzelnd nennt. »Das ist mein liebster Rückzugsort. Ich pflege hier eine Baumschule und die Gewächse, die woanders gerade keinen Platz gefunden haben. Vor allem dürfen sich hier viele Pflanzen wild vermehren.« Eine weitere wilde Zone ist der Waldgarten im vorderen Hofbereich. Zwischen jungen Bäumen, die inzwischen fast zwei Meter hoch sind, gedeihen dort vor allem Sträucher, wie Johanisbeeren, oder mehrjährige Stauden, wie Brennnesseln, Beinwell, Rhabarber oder Minzen, die schon Ertrag bringen, bevor die Bäume selbst so weit sind. Auf der anderen Seite der Hofeinfahrt liegt das genaue Gegenstück: Der Gemüsegarten – hier wächst Einjähriges, wie Paprika, Fenchel, Zucchini oder Kürbis in Mischkultur mit siebenjähriger Fruchtfolge – ist auf effiziente Bearbeitung und hohe Produktivität ausgelegt. Aber auch dort lässt Johanna mehr Beikräuter stehen, als es in »Kontrollgärten«, wie sie den klassischen Gartenbau bezeichnet, üblich ist. »Ich finde den Kontrast und den Wechsel von verwilderten und geordneten Flächen sehr schön«, sagt sie.
In den »ungeordnet« wirkenden Hofbereichen genießt Johanna es, »mit der Sukzession zu arbeiten«. In den Anfangsjahren wucherte an mehreren Stellen meterhoher Beifuß, und viele Leute sagten ihr: »Auweia, der muss weg!« Aber der Beifuß schützte den Boden und bremste den Wind. Mit den Jahren ist er ohne weiteres Zutun anderen Pflanzen gewichen.
Solche »wilden« Zonen nicht nur auszuhalten, sondern ­ihren Reichtum zu sehen, ist für Johanna ein notwendiger Wandlungsprozess hin zu einem neuen Bild von Kulturlandschaft. Damit Gäste einen Eindruck hiervon erhalten können, hat Johanna einen speziellen Gartenbereich angelegt. Seine Wege flankieren Bäume, Sträucher und Stauden, deren Früchte beim Spazieren geerntet werden können. Auch wir freuen uns über reife Tomaten und Pfirsiche, die wir während unseres Gesprächs naschen.

In langen Zeiträumen denken

Inzwischen bewirtschaftet Johanna auch zwei Flächen außerhalb ihres Hofs. Auf zweieinhalb Hektar Ackerland am Dorfrand hat sie ein »Alley cropping«-Agroforstsystem angelegt – lange Baumreihen, zwischen denen Getreide wächst. Hier kann sie mit dem Pferd und entsprechenden Gerätschaften arbeiten. Darüber hinaus pflegt sie die Bäume der alten Schlossgärtnerei im Dorf und baut dort auf einigen Beeten Gemüse an. »Dort sieht man, wie ein alter Waldgarten funktioniert«, erzählt Johanna. »Vor 150 Jahren hat sich da jemand Gedanken gemacht und ist zu einem ähnlichen Entwurf gekommen wie demjenigen auf unserem Hof. Aber dieser Waldgarten ist eben schon lange voll entwickelt; er wurde immer ökologisch bewirtschaftet, der Boden und das Mikroklima und die alten Bäume sind ganz wunderbar!« Sie findet es schade, dass nur wenige Menschen neu gepflanzte Bäume zu schätzen wissen. Dass ihr Waldgartenkonzept frühestens in 20 Jahren wirklich wirksam werden wird, stört sie nicht: »Ich bin stolz darauf, dass es so lange dauert. In solchen Zeiträumen zu denken, sind wir nicht gewohnt. Indigene Gesellschaften denken und planen oft für die nächsten sieben Generationen.«
Im Dorf wissen die Menschen ihre Arbeit mit den Bäumen inzwischen zu schätzen. »Am Anfang sagte mir ein Nachbar: ›Du brauchst den Baum nicht zu schneiden, und du brauchst keine Bäume zu pflanzen, hier wächst sowieso nichts‹«, erinnert sich Johanna. »Ein paar Jahre später kommen Leute aus der Nachbarschaft zu mir und fragen, ob ich ihre Kirsche veredeln kann oder ihnen einen Baum mitbringe.« Im Jahr 2016 organisierte sie mit dem betagten Pommologen Jürgen Sinnecker einen »Apfeltag«, zu dem viele Nachbarinnen und Nachbarn kamen, um die Sorten der Äpfel in ihren eigenen Gärten bestimmen zu lassen und Apfelsaft und Apfelwein zu verkosten. Bei dieser Gelegenheit wurden in der Schlossgärtnerei zwei alte Apfelsorten wiederentdeckt, die nirgendwo sonst wachsen: der Gerswalder Hasenkopf und der Gerswalder Rasselapfel – von letzterem gab es nur noch einen einzigen Baum. Johanna hat mit ihren Veredelungskünsten dafür gesorgt, dass inzwischen an die 40 Rasselapfelbäume nachwachsen. Die Tradition der Apfeltage will sie nächstes Jahr fortsetzen.

Ein Ort der Begegnung

Bei Sonnenuntergang lassen wir uns auf der Veranda nieder und genießen gebratene Pilze, die Sarahs Lebensgefährte Andreas mitgebracht hat. Zu uns gesellt sich Micha, der auf dem Hof eine Fischräucherei eingerichtet hat. Einige Nachbarn haben schon ein Feuer entzündet. Zwei kleine Mädchen – die Kinder von Feriengästen – kommen angerannt und servieren Sandeis.
Auch wenn der Hof nicht zur ersehnten Landkommune geworden ist, so ist er doch ein freundlicher Ort der Begegnung in der Region. »Wir sind nicht hierher gezogen, um eine Gärtnerei zu gründen«, betont Johanna. »Christoph und ich, wir sind eigentlich Zimmerleute. Es ging uns darum, das Leben zu führen, das wir erstrebenswert finden. Wir arbeiten sehr gerne handwerklich, und der Hofaufbau hat viel Freude gebracht. Wir haben gefeiert, wir hatten jede Menge Gäste und Freiwillige. Von Jahr zu Jahr wird es schöner – der Hof, das Leben, die Infrastruktur, die Möglichkeiten und unser Gefühl hier.« In den letzten elf Jahren haben die beiden mit sehr vielen unterschiedlichen Menschen auf dem Hof gelebt, alle haben ihre ganz eigenen ­Fähigkeiten, Interessen und Schwerpunkte in die Entwicklung eingebracht. Dass sich keine größere Gemeinschaft entwickelt hat, stört die beiden inzwischen nicht mehr. Christoph meint: »Ich finde es sogar richtig gut, dass wir den Hof als Familie begründet haben und unseren eigenen Ideen gefolgt sind. Alle ­dürfen sich einbringen und teilhaben – aber es ist nicht nötig, wegen jeder Kleinigkeit ein Plenum einzuberufen.« Johanna ergänzt, dass sich anstelle einer Kommunen-Struktur eher ein Netzwerk verschiedener Menschen im Dorf und der Umgebung entwickelt habe. »Trotzdem denke ich immer wieder, wie schön es wäre, mit anderen gemeinsam Verantwortung zu tragen – und frage mich, wie sich das realisieren ließe.« Dabei blinzelt sie verschmitzt zu Sarah hinüber, die vergnügt das Lächeln erwidert.

 


Bereits erschienen in Oya - Garten Erde, Ausgabe 51/2018.

Der Permakultur-Hof Stein-Häger ist ein Praxisort für Permakultur und hat eine eigene Webseite.

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