Die Natur kennt keine Schädlinge

Indirekter Pflanzenschutz schützt auch das Trinkwasser Europas


Mulch ist der perfekte Lebensraum für Raubmilben, die Schädlinge im Gewächshaus fressen. (Foto © Sabrina Furrer)

Biokohle stärkt die Struktur des Bodens und verhindert langfristig Erosion. (Foto © Sabrina Furrer)

Unterssaten schützen den Boden, vermindern Erosion und stärken die Um- und Abbauprozesse. (Foto © Sabrina Furrer)

von Sabrina Furrer

Die Schweiz wird nicht ohne Grund häufig als Wasserschloss Europas bezeichnet. Denn das Gotthardmassiv ist eine der größten Süßwasserreserven des Kontinents. Von hier aus ist das Land über die Flüsse Rhein, Rhone und Po mit ganz Europa verbunden. Wasser kennt keine nationalen Grenzen. Es erinnert uns daran, dass die Schweiz keine Insel ist und eine besondere Verantwortung im Umgang mit der Ressource Wasser hat.

Die Bedrohung der Biodiversität durch den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln ist enorm und schon weit fortgeschritten. So sind die Flusslandschaften der in den Rhein fließenden Aare, Reuss und Limmat nicht nur durch die angrenzende Industrie und Agglomeration (= schweizerisch für: Ballungsraum, Anmerkung der Redaktion) belastet, sondern auch durch die dort praktizierte Landwirtschaft. Interessanterweise befinden sich hier auch die Hauptsitze gleich mehrerer Chemiegiganten samt zugehöriger Lobbykraft. So ist der Zulassungswiderruf eines Pflanzenschutzmittels meist eine langwierige Angelegenheit. Es kann auch schneller gehen, wie die Ereignisse um das Pflanzenschutzmittel Chlorothalonil zeigen. Im Juni 2019 hatten Kantonschemiker in der Ostschweiz Alarm geschlagen. Das Bundesamt für Landwirtschaft entzog bereits im Dezember die Zulassung für Chlorothalonil. Entscheidend war dabei die Zusammenarbeit von besorgten Landwirtinnen mit den lokalen Wasserversorgern und politischen Vertretern. Doch im Januar 2020 reichte Syngenta prompt Beschwerde ein und erzielte einen Teilerfolg: Chlorothalonil darf nicht mehr als „wahrscheinlich krebserregend“ bezeichnet werden. Und selbst wenn Konzerne ein Mittel in der Schweiz nicht mehr verkaufen können, haben sie immer noch einen riesigen Absatzmarkt im Ausland, vor allem im globalen Süden, wo durch deren Einsatz langfristig gravierende Schäden für Mensch und Umwelt entstehen.

In der direkten Demokratie Schweiz bemühen sich gleich drei Bürgerinitiativen darum, dass die Schweiz ihren Umgang mit Pestiziden ändert. So fordert die Initiative #LebenstattGift das komplette Verbot von synthetischen Pestiziden innerhalb des nächsten Jahrzehnts, sowohl deren Anwendung in der Schweiz als auch bei importierten Lebensmitteln. Die Trinkwasserinitiative verfolgt ein ähnliches Ziel, nämlich dass Direktzahlungen an landwirtschaftliche Betriebe nur noch möglich sein sollen, wenn diese pestizidfrei arbeiten. Im November 2020 wurde mit der Konzernverantwortungsinitiative bereits darüber abgestimmt, ob Konzerne wie Glencore oder Syngenta samt Tochterfirmen auch im Ausland für ökologische und soziale Schäden aufkommen müssen, die durch ihre Produkte und Praktiken verursacht wurden. Doch die Initiative scheiterte äußerst knapp an den Wahlurnen und zeigt die Doppelmoral in der Schweiz: Toxische Stoffe und problematische Praktiken sind im globalen Süden in Ordnung, solange Profit und Arbeitsplätze stimmen und es vor der eigenen Haustüre sauber bleibt. Doch von sauber sind wir auch hier weit entfernt.

Negativspirale

Der Einsatz von synthetischen Pflanzenschutzmitteln in der Landwirtschaft ist ein Erbe der Kriegsindustrie des 20. Jahrhunderts. Damit verbunden sind vielschichtige Schwierigkeiten für Landwirtschaft, Natur und Gesellschaft.

Es gibt verschiedene synthetische Pflanzenschutzmittel in der Landwirtschaft: Herbizide wie Glyphosat wirken gegen Unkraut/Beikraut. Fungizide, zum Beispiel oben genanntes Chlorathalonil, bekämpfen Pilze. Pestizide, beispielsweise Neonicotinoide, wirken gegen Insekten.

Diese Stoffe werden mithilfe von Mikroorganismen in der Pflanze und im Boden um- oder abgebaut. Wenn kein Abbau stattfinden kann, verlagern sich die Giftstoffe durch Verdunstung oder Auswaschung. Sie können sich auch anreichern und dann durch pflanzliche oder tierische Nahrung in unsere Körper gelangen und unsere Gesundheit gefährden. Es gibt klare Grenzwerte, aber diese werden häufig überschritten, etwa weil die Mittel nicht abbaubar sind oder weil sie aus Angst vor Resistenzbildung zu hoch dosiert werden. Diese Befürchtung ist auch begründet, denn die bekämpften Organismen entwickeln sehr häufig langfristig Resistenzen. So müssen immer wieder neue Mittel gefunden werden, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Es entsteht eine sich ständig erneuernde Abhängigkeit, welche der Landwirtschaft strukturell und finanziell Schaden zufügt. Ein Teufelskreislauf: gewinnbringend für Konzerne, verheerend für die Umwelt.

Von behördlicher Seite wird versichert, dass Trinkwasser noch in ausreichender Menge und Qualität vorhanden sei. Allerdings mussten in der Schweiz schon in einigen Landwirtschaftsregionen Quellen und Trinkwasserreserven geschlossen werden. Oder Wasser wird zugekauft und gemischt, um die erlaubten Grenzwerte einzuhalten. Es ist auch davon die Rede, neue Leitungen zu bauen, um unbelastetes Wasser aus weiterer Entfernung zu holen.

Die neue Schweizer Agrarstrategie AP 22+ versucht dem Problem entgegenwirken, indem sie Landwirtinnen und Gemüsegärtnern alle fünf Jahre zu einem Wiederholungskurs für Pflanzenschutz verpflichten will. Ziel ist es, sowohl die Menge als auch die Ausbringungstechnik und die Reinigung der Pflanzenschutzmittelspritzen zu verbessern. Der Ausbau von indirekten Pflanzenschutzmassnahmen mittels Forschung und Beratung ist ebenfalls in der AP 22+ verankert und der einzige Weg für Landwirtinnen, sich langfristig aus der Negativspirale zu befreien. Direkter und indirekter Pflanzenschutz schliessen sich dabei nicht unbedingt aus, sondern können einander ergänzen.

Im Pflanzenschutz gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten:

direkter Pflanzenschutz

  • Pflanzenschutzmittel (synthetische und biologische)
  • Schädlinge ablesen
  • Fallen aufstellen

indirekter Pflanzenschutz

  • Nützlinge
  • optimaler Saat-/Setzzeitpunkt
  • während empfindlicher Wachstumsstadien schützen
  • Bodengesundheit
  • Sortenwahl
  • Standortwahl
  • Standortgestaltung
  • allgemeine Pflanzengesundheit
  • gesunde Fruchtfolge
  • angepasste Anbaumethoden inklusive Düngung und Bewässerung
  • hochwertige Saatgutproduktion inklusive Förderung von Sortenvielfalt und gezielter Selektion resistenter Sorten

Die Permakultur bietet mit ihrem Fokus auf Beobachtung und systemisches Denken einen wunderbaren Rahmen für den indirekten Pflanzenschutz. Die Sicht auf Boden und Wasser als tote Materie und unendliche Ressource gehört der Vergangenheit an. Genauso wie die Unterteilung von Insekten und anderen Organismen in Nützlinge und Schädlinge aus einer menschlichen Perspektive geschieht. Aus Sicht der Natur ist jede Art ein wichtiger Teil des Ganzen. Alles gärtnert und belebt eine Nische.

Indirekter Pflanzenschutz mag komplexer, zeitaufwändiger und auch teurer sein, dafür aber langfristig nachhaltiger und gesünder für alle Lebewesen. Der Einsatz von Nützlingen erfordert ein genaues Kennen der Lebensbedingungen aller beteiligten Organismen. Mit Planung für den Einsatz dieser Nützlinge lässt sich der Verbrauch von Pflanzenschutzmitteln im gedeckten Anbau deutlich reduzieren.

Für den indirekten Pflanzenschutz gibt es viele kleine Variablen, an denen geschraubt werden kann, beispielsweise die Sortenwahl, der Saatzeitpunkt und die Standortwahl. Zusammen haben sie ein großes Potenzial. Der Anbau standortangepasster Sorten vermindert das Ausfallrisiko. Dazu braucht es in Zukunft mehr Investitionen in Sortenzüchtung und -erhaltung.

Für den Aufbau einer enkeltauglichen Zukunft ist es wichtig, klare Visionen zu haben. Eine resiliente Landwirtschaft könnte so aussehen: Ein Hof oder Betrieb kann den Ausfall einer Kultur verkraften, weil er mit vielen verschiedenen wertvollen Produkten breit und divers aufgestellt ist. Möglicherweise hat der Betrieb zusätzlich zur Produktion von landwirtschaftlichen Erzeugnissen auch erlebnisorientierte Angebote, dies fördert zusätzlich politisch das Verständnis zwischen Stadt und Land. Der Betrieb ist wichtiger Teil eines sozialen Netzwerkes, die Menschen sehen den Wert der Nahrung, auch in einem krummen Rüebli (Karotte). Sie kennen ihre Landwirtin und sind deshalb bereit, einen fairen Preis zu zahlen. Landwirte spüren diese Solidarität, die es ihnen erlaubt, wichtige Schritte in die Zukunft zu machen.

Überall sind die Böden bewachsen, egal zu welcher Jahreszeit. So wird er gepflegt und aufgebaut, Abschwemmung und Auswaschung werden minimiert. Landwirtinnen sind schlau, indem sie sich die Gratis-Dienstleistungen der Ökosysteme zu Nutzen machen, beispielsweise indem sie mehr Bäume pflanzen und so Nischen für viele Insekten schaffen. Direkten Pflanzenschutz betreiben sie nur noch mit pflanzlich-biologischen Mitteln.

Viele junge Menschen interessieren sich dafür, in die Landwirtschaft einzusteigen, weil sie ihnen ein erfüllendes, gesundes Leben voller spannender Experimente bieten kann. Diese Menschen werden durch innovative Bildungsinstitutionen auf ihrem Weg zum Erfolg begleitet.

 


Ein Kreuz für die Zukunft

Die Schweizer Bevölkerung stimmt im Sommer 2021 über zwei Initiativen ab, die beide sauberes Wasser und gesunde Böden fördern. Wenn sie angenommen werden, kommt es zu folgenden Veränderungen:

Trinkwasserinitiative

  • Einsatzverbot von synthetischen Pestiziden in der Produktion und Verarbeitung von landwirtschaftlichen Produkten
  • Einfuhrverbot von mit synthetischen Pestiziden behandelten Lebensmitteln
  • Der ökoglogische Leistungsnachweis als Grundlage der Direktzahlungen wird ergänzt durch:
    • Nachweis der Erhaltung von Biodiversität
    • pestizidfreie Produktion
    • Tierbestand muss mit hofeigenem Futter ernährt werden
    • Verzicht auf prophylaktischen Antibiotikaeinsatz
  • Übergangsfrist von 8 Jahren

Leben statt Gift

  • Einsatzverbot von synthetischen Pestiziden in der Produktion und Verarbeitung von landwirtschaftlichen Produkten
  • Einfuhrverbot von mit synthetischen Pestiziden behandelten Lebensmitteln
  • Bundesrat sorgt für schrittweise Umsetzung
  • Übergangsfrist von 10 Jahren

AP 22+

Die pragmatische Agrarpolitik des Bundes verfolgt ähnliche Ziele wie die beiden Initiativen, allerdings baut sie auf der bestehenden Direktzahlungspolitik auf und zeigt weniger Ehrgeiz und Mut, den Wandel rasch voranzutreiben.

 

 

 

 

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