Den Garten Eden pflanzen?

Die Geschichte eines »syntropischen« ­Waldgärtners in Norddeutschland.


Gelbe Blüte einer Esskastanie im Wald

Gelbe Blüte einer Esskastanie im Wald

Wald aus Esskastanien in der Pfalz

Wald aus Esskastanien in der Pfalz

von Jochen Schilk

Beinahe wären sie für immer geblieben. Stephan Seidemann und seine damalige Frau Andrea waren zwischen 1995 und 1997 mehrfach in Brasilien. Sie hatten von dem aus der Schweiz stammenden Ernst Götsch gehört, der im Nordosten des Landes aus dem Nichts einen fruchtbaren Waldgarten geschaffen hatte. Was die beiden bei ihrem ersten Besuch sahen, ließ aus bloßem Interesse feurige Inspiration werden – und so reisten sie noch zweimal hin, um von dem Pionier zu lernen.

Götsch hatte seit dem Jahr 1984 dazu beigetragen, dass auf 500 Hektar ausgelaugtem, weitgehend vegetationsfreiem Hügelland, über das der Wind pfiff, in nur acht Jahren wieder der äußerst artenreiche Atlantische Regenwald wucherte, von dem in Brasilien heute kaum noch zehn Prozent erhalten sind. Dieser junge Wald war durchsetzt mit essbaren Pflanzen – insbesondere mit halbschattentoleranten Kulturen wie Kakao, Bananen, Pfeffer oder Ananas. Den Dünger, der das Aufforstungswunder befeuerte, hat die Natur – mit menschlicher Unterstützung – vor Ort selbst erzeugt. Heute gehört Ernst Götschs Farm in Piraí do Norte im Bundesstaat Bahia zu den fruchtbarsten und artenreichsten Fragmenten des Atlantischen Regenwalds. Neben Früchten und Nüssen wird hier eine der weltweit besten und teuersten Kakaobohnen geerntet.

Seinen Agroforst- bzw. Waldgarten-Ansatz – den er der indigenen Bevölkerung abgeschaut und mit viel Experimentier­freude weiterentwickelt hat – nennt Götsch »Syntropische Landwirtschaft«. Das hat mit den Tropen nichts zu tun, sondern soll einen Gegensatz zur Entropie beschreiben: Mit letzterem Ausdruck wird die Tendenz von Systemen bezeichnet, allmählich in chaotische Zustände zu degenerieren: Autos gehen kaputt, Fels und Boden erodieren in die Ozeane. Das Einzige, das sich diesem Chaos entgegen­stemmt und aus sich selbst heraus neue Zusammenhänge hervorbringt, ist das Leben selbst.

Fast hätten sich Andrea und Stephan bei ihrem letzten Brasilien-Aufenthalt im Jahr 1997 dort angesiedelt. Der Kauf eines passenden Grundstücks war bereits in die Wege geleitet – aber als Stephan noch einmal in sich ging, kam ihm das Unterfangen plötzlich nicht mehr stimmig vor: Sie waren »Gringos«, die letztlich nicht nach Südamerika gehörten. Also zurück nach Deutschland, wo sie nach einem passenden Ort für ihre Vision suchten. So stießen sie Ende 1997 im südlichen Vorpommern am Übergang zur Uckermark auf einen zum Verkauf stehenden Hof. In Dargitz bei Pasewalk ist der Boden mager – was schon am Namen der Nachbarorte Sandkrug und Sandförde abzulesen ist. Auf rund einem Viertel des 21 Hektar großen Lands um die Wirtschaftsgebäude wuchsen zwar krumme Kiefern. »Aber diese Kiefern stehen nur an zwei Stellen«, erzählt Stephan. »Auf dem übrigen Grund fand sich damals praktisch kein Baum und kein Strauch. Fast überall fegte der Wind durchs Land.« Andrea und Stephan wollten hier nach den syntropischen Prinzipien aufforsten und ihr Ideal der Selbstversorgung verfolgen.
Aber ist so ein Vorhaben realistisch? Bäume wachsen in den Tropen vier- bis achtmal so schnell wie in Klimazonen mit winterlichen Vegetationspausen; abgefallene Blätter und Zweige verrotten sehr rasch und können umgehend wieder lebenden Pflanzen als Nahrung dienen. Zudem ist die zu erwartende Ernte in Äquatornähe höher: Bananenstauden etwa produzieren zweieinhalbmal so viele Kalorien wie Esskastanienbäume auf gleicher Fläche. Lassen sich Ernst Götschs Prinzipien – wie dieser behauptet – tatsächlich an andere Kontexte anpassen?

Die ersten Erträge sind immaterieller Natur

Heute sind weite Teile des Anwesens von noch jungen, gesund wirkenden Waldstücken bestanden. Nicht alle Aufforstungen entstanden gemäß den Methoden von Ernst Götsch, doch floss immer etwas von dessen Erkenntnissen ein. Hinter dem schick sanierten Haus, in dem Stephan momentan allein lebt, durchschreiten Gäste einen Heckenstreifen aus Nadelgehölzen und Ahorn – und finden sich dann auf einer Streuobstwiese von etwa einem Hektar wieder, wo vor allem Walnussbäume, Esskastanien, einige Aprikosen sowie Apfelbäume mit einem offenkundig äußerst mageren Untergrund zurechtkommen müssen. Hier und dort hat Stephan in mit Mist gefüllten Löchern Kürbisse angepflanzt. An einigen Stellen ist zu sehen, wie die Mahd der kurzgesensten Wiese als düngende Mulchschicht um die Stämme herumgelegt ist. In vielleicht zehn Jahren wird diese Wiese erkleckliche Mengen Nüsse und Obst schenken, und der Boden wird durch Laubfall und weiteres Mulchen an Fruchtbarkeit gewonnen haben.

Wie lange es in Europa wohl ungefähr dauert, bis ein neu angelegtes Waldgartensystem in den Vollertrag kommt? »Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen: vielleicht fünfzig Jahre. Ich habe hier zwar schon eine Menge aufgeforstet, aber in Sachen Agro­forstwirtschaft stehe ich noch ganz am Anfang«, antwortet ­Stephan bescheiden. »An Waldrändern kommen erste Erträge am schnellsten. Ich habe da zum Beispiel viel Schlehe und Sanddorn gepflanzt – die Früchte machen dich zwar nicht satt, aber gesund. Von meinem Waldgarten ernähre ich mich bislang nur minimal, es gibt Obst und ein paar Nüsse und Maronen.«

Stephan ist überzeugt, dass es eher eine psychologische als eine ökologische Frage sei, ob der in Brasilien bewährte Ansatz auch bei uns funktioniert. Wer sich dem Unterfangen stelle, müsse ein geduldiges Vertrauen in die Natur entwickeln: »Hier, in der gemäßigten Klimazone, wo dir nicht an 365 Tagen im Jahr die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, lernst du Geduld.« Zudem gelte es, in jeder Hinsicht beweglich zu werden: »Die Arbeit mit dem Land hat meinen Geist, mein Herz, meine Seele und letztlich auch meinen Körper geöffnet. Sie ist eine Möglichkeit, sich zu heilen und mit lebendigen Prozessen zu verbinden.«


Wie funktioniert syntropische Landwirtschaft?

Wachstumsprozesse zu verstehen, gilt als das Grundprinzip des syntropischen Ansatzes. Wichtig ist hierfür insbesondere das Verständnis der Sukzession – so wird der Prozess genannt, bei dem in Regionen mit ausreichend Niederschlag eine kahle Fläche allmählich von Pflanzen erobert wird und sich schließlich in einen Wald verwandelt. Ernst Götsch unterteilt den Sukzessionsprozess in das Besiedlungs-, das Anhäufungs- und das Füllestadium. Diese Einteilung entspricht dem Wachstumsprozess so gut wie aller Pflanzen: Nach dem Keimen beginnen sie, relativ langsam zu wachsen, bis sie ein förderliches Bodenleben rund um ihre Wurzeln etabliert haben, so dass sie genügend Nährstoffe und Wasser aufnehmen können. In der nun folgenden Jugendphase geht die Wachstumskurve steil nach oben. Haben sie ihre jeweilige maximale Höhe erreicht und kommen in der Altersphase in den Frucht-Vollertrag, hört das Wachstum weitgehend auf.

Als gelernter Landwirt und Wissenschaftler wusste Ernst Götsch, dass es zu Beginn des Experiments darum gehen würde, offen daliegenden Boden mit Vegetation zu bedecken. Also forsch-te er nach regionalen Pionierpflanzen (aller Arten und Größen), die für das Besiedlungsstadium besonders geeignet sind. Bei sehr mageren Bodenverhältnissen können aber selbst Pioniergehölze keine Wurzeln fassen – dort muss mit Kräutern oder Gräsern begonnen werden. In Mitteleuropa zählen etwa Weiden, Pappeln, Robinien und Erlen zu den Pioniergehölzen. Werden auf einer ansonsten gehölzfreien Fläche zu Beginn ausschließlich Walnüsse oder Äpfel gepflanzt, so brauchen diese Bäume – besonders, wenn sie in ausgezehrtem Boden wurzeln – ziemlich lange, um überhaupt in die jugendliche Wachstumsphase zu gelangen. Sie benötigen vor allem zu Beginn ihres Lebens die Gesellschaft anderer Bäume, die die Fähigkeit haben, das richtige Mikroklima und gute Bodenverhältnisse zu schaffen, sowie das Wasser in der Erde zu halten. Haben sich solche Pioniergehölze einmal etabliert, geht es bei der syntropischen Methode nun darum, insbesondere diese beständig zu beschneiden, um mit dem Schnittgut – den belaubten Ästen und Zweigen – die Ertragspflanzen gezielt zu füttern. Eben dieses regelmäßige intensive Beschneiden führt bei den Bäumen immer wieder zu neuen Wachstumsschüben! Sie bleiben dadurch in der Jugendphase, also in der Zeit des maximalen Zuwachses auch im Wurzelraum, wodurch sie reichlich Humus aufbauen. Indem sie das Wachstumshormon Gibberellinsäure absondern, animieren sie obendrein ihre gesamte Umgebung zum Sprießen. Bei den Ertragspflanzen hat das Beschneiden außerdem zur Folge, dass sie eher – und mehr – Früchte tragen.

Die Zukunft liegt in mehrjährigen Pflanzen

Wer durch die maximal zwanzig Jahre jungen Schonungen auf Stephans weitläufigem Grundstück streift, mag vielleicht ahnen, dass sich mit etwas Geduld auch in gemäßigten Breiten Bäumen beim Wachsen zusehen lässt. Direkt hinter der Streuobstwiese liegt eines dieser Waldstücke, die Stephan angepflanzt hat. Er konnte hier nur wenig Pioniergehölze einbringen, weil die geldgebende Forstbehörde die zu verwendenden Baumarten vorgab. Jetzt arbeitet er daran, den Wald nachträglich mit fruchttragenden Bäumen zu durchsetzen. Die zehnjährigen Eichen, Robinien, Lärchen, Wildkirschen und Douglasien stehen so dicht, dass der Zutritt nicht leicht fällt. Es ist hier viel feuchter als nebenan auf der von einem sehr trockenen Sommer gezeichneten Magerwiese mit dem lichten Baumbestand; die Vegetation ist erstaunlich üppig. Wenige Schritte im Inneren der Schonung sind Hinweise auf die Götsch’sche Bewirtschaftungsweise zu erkennen: abgeschnittene, zwischen die Stämme gelegte Äste, die den Boden mit organischer Masse anreichern.

Als Stephans Partnerin noch auf dem Hof lebte, versuchte sich das Paar auch im Anbau von Getreide. Das Selbstversorgungs-experiment hat er jedoch nicht in bester Erinnerung: »Dabei durften wir lernen, wie ungeheuer viel Plackerei und energetischer Aufwand im täglichen Brot steckt – einem Lebensmittel, das vielen Menschen letztlich nicht einmal gut bekommt: Schon der Anbau ist aufwendig, dann die Ernte, die trockene Lagerung, der Transport, das Vermahlen, das Backen …« Ihm sei klar, wie einschneidend die Ernährungsumstellung sei, sollten Waldgärten das Bild zukünftiger Agrarlandschaften prägen. »Letztlich müssen wir als Gesellschaft von den einjährigen Pflanzen wegkommen«, glaubt er – und räumt dann ein, dass es ihm selbst schwerfalle, sich das geliebte Brot abzugewöhnen.

An den Stellen, wo Stephan dem alten Kiefernbestand auf dem Grundstück Bau- und Brennholz entnommen hat, wachsen nun Esskastanien und Haselnüsse hoch. Auf die Frage, welche Kulturen Stephan schon in der Bodenetage seines Waldgartens angepflanzt hat, nennt er eine Pflanze, die er als hervorragendes Mulchmaterial angesiedelt hat: den Färberwaid. »Der sät sich schön aus, braucht nicht viel Wasser, ist tiefwurzelnd und mehrjährig.« Und wie sieht es mit essbaren Pflanzen aus? Stephan: »Ich werde versuchen, Bohnen an Bäumen ranken zu lassen. Da musst du aber wenigstens ab und zu gießen – etwas, das Ernst nicht machen würde.« Zu den Prinzipien seines Lehrers zählt nämlich, dass Methoden zur Wasserspeicherung überflüssig seien. »Wasser wird gepflanzt!« lautet Götschs Credo: Die Pflanzen selbst brächten es ins System. Auf seinem zuvor ausgetrockneten Gelände führen heute tatsächlich alle 17 Bäche, die das Gebiet durchziehen, wieder ganzjährig Wasser.

Auch durch Stephan Seidemanns Pflanzungen ist heute der Wasser- und Humusgehalt sowie der Grad an Biodiversität deutlich gestiegen. Fast sieben Hektar neuen Wald hat der Mann in zwanzig Jahren mit Unterstützung anderer gepflanzt und gehegt – während er unter anderem noch Kinder großgezogen, Gärten betreut und Häuser gebaut bzw. saniert hat. Woher hat er die Ausdauer und Kraft für all diese Projekte genommen?

Vielleicht ist die Antwort darin zu finden, dass er bis Mitte der 1990er Jahre Marathons gelaufen ist, ja 1983 sogar einmal DDR-Meister in dieser Disziplin war – und das, ohne ins staatliche Leistungssportsystem integriert gewesen zu sein. Schon als Kind hatte er mit dem Laufen angefangen; am liebsten rannte er bereits da auf einsamen Waldwegen. Gegen Ende seiner Karriere sagte er sich mehrmals vom Leistungssport los, um dann jeweils doch wieder weiterzumachen. Das Laufen, meint Stephan im Rückblick, sei eine Sucht, nicht anders als Alkoholismus. Vielleicht hat er nach dem endgültigen Abschied vom Ausdauersport seine Kraft und Disziplin umgeleitet in das Pflanzen von Wäldern? Diese Leidenschaft mag auch Suchtpotenzial besitzen, doch erscheint sie viel sinnvoller als das Rennen im Kreis.

Versuch eines Fazits

Ernst Götsch ruft in einem Video die Weltgemeinschaft auf, ertragreiche, essbare Wälder zu pflanzen: »Lasst uns Gebiete schaffen, in denen die Anwesenheit des Menschen für die nicht-menschliche Welt ungefährlich ist! Der Schutz des Landes vor dem Menschen kann doch keine Lösung sein!« Wir Menschen seien grundsätzlich in der Lage, Wege zu finden, dem planetaren Ökosystem »nützlich und hochwillkommen« zu sein – bislang seien wir allerdings blind für die Möglichkeiten hierzu.

Das klingt gut und schön, doch ist der syntropische Ansatz wirklich auf kühlere Weltgegenden übertragbar? Nach meinem Besuch bei Stephan Seidemann und weiterer Recherche, unter anderem beim Agro­forstexperten Paul Hofmann, meine ich: Ja, es lohnt sich, Götschs Prinzipien zu verstehen und praktisch anzuwenden. Erfolgversprechend scheint mir für Europa insbesondere das Prinzip von »Waldrandgärten« zu sein, wie sie etwa der Engländer Martin Crawford anlegt, denn für diese licht gepflanzten Systeme genügt die hiesige Sonnenintensität. Auch die Agroforst-Variante »Baumreihen auf dem Acker« (siehe Oya 47) kann auf europäische Lichtverhältnisse zugeschnitten werden. Und warum nicht gezielt Nußbäume und Esskastanien in unsere Wälder integrieren? Außerdem beschäftigt mich ein Gedanke: Auch in Europa war die Tradition der Hutewälder verbreitet, bei der zum Beispiel Schweine Eicheln und Bucheckern futterten. Wir könnten Maulbeerbäume kultivieren, deren Blätter nicht nur Seidenraupen schmecken (siehe Oya 44), sondern die auch ein sehr proteinreiches Viehfutter abgeben – von den leckeren Beeren ganz zu schweigen. Sicher­lich gibt es hier noch ungeahnte Möglichkeiten, Wälder und Tierhaltung in einer Weise zu kombinieren, in der erstere nicht übernutzt werden. Und: Ja, lasst uns erforschen, inwieweit sich eine nur wenig gezähmte Natur und die Nahrungsmittelproduktion verzahnen lassen – zum Beispiel mittels Baumpflanzungen!

 


Von den Syntropie-Waldgärtnern lernen

 

Bereits erschienen in Oya - Garten Erde, Ausgabe 51/2018.

Nach oben